Dienstag, 26. Dezember 2017

26.12.2017 Kleine und große Sorgen

Wenn ich morgens um 6 Uhr wach bin, und dazu noch in Kamerun, dann stehe ich auf und gehe raus „in die Wildnis“ (würde Jostein Gaarder sagen) um Energie zu tanken und mir den Sonnenaufgang anzusehen. Also habe ich meinen Foto geschnappt und die Morgenstunde genutzt.

Sonnenaufgang am Pastoral Center

Der ganz normale Wald

Dann habe ich auf dem Weg zu den Mädels Erasmus getroffen der mir (nicht frohe Weihnachten gewünscht aber) noch einmal gesagt hat, wie wichtig es für ihn ist, wenn ich ihm ein funktionierendes Notebook besorgen könnte. Seine Frau Edith ist ja gerade im Krankenhaus um ihr Kind zur Welt zu bringen. Als ich wenig später in der Hütte sitze klopfen seine Kinder Marie und Buri an der Tür. Die beiden Geschwister sind ja sehr oft hier, Eli und Christina kümmern sich um sie und setzen klare Regeln. Ich habe dann die Tür aufgemacht und ihnen gesagt, dass die Mädels noch schlafen (wollen) und wir dann erst frühstücken und sie dann gerne kommen können, wenn wir die Tür aufmachen. Aber... was trinken, dürfen wir ein Plätzchen haben? Buri muss Pi und kriegt die Hose nicht auf, Marie putz unsere Veranda und Buri macht Kohle drauf, ein Raubvogel hat ein kleines Huhn gerissen und Mama-Pfau konnte es nicht verhindern. Im Pidgen Englisch heißen Hühner Pfau und die laufen hier wie die Ziegen überall frei rum, da hatte der Vogel wohl Hunger. Aber die Kinder vermissen ihre Mama wirklich. Ich habe dann also den „Fehler“ gemacht, ihre ständigen Klopfzeichen geschmückt mit Weinanfällen zu „bearbeiten“, damit die Mädels noch halbwegs schlafen können. So sind sie aber über zwei Stunden vor der Tür und klettern auf den maroden Holzwäscheständern rum, von denen sie wissen, dass sie das nicht aushalten werden. Seufz.

Die Kinder haben wirklich nicht viel zu lachen. Sie werden hier oben oft sich selbst oder den Nachbarn überlassen, und das nicht aus Faulheit sondern weil es nicht anders geht. Einschub aus den Sicherheitshinweisen: „Bitte legen zunächst Sie sich die Atemmaske an und helfen erst dann ihrem Kind“. Ohne Eltern ist alles nichts. Die werden short on information gehalten, ich glaube nicht dass Marie weiß was ihre Mutter im Krankenhaus macht, dass da ein Geschwister im Bauch ist und wann/ob sie wiederkommen wird. Auch die Jugendlichen wissen nicht, wie die Kinder in den Bauch kommen, wenn sie nicht in der Schule den Aufklärungsunterricht besuchen können. Das erklärt die vielen extrem jungen Mütter, da die Jugendlichen wegen der nicht stattfindenden Schule sehr viel Zeit miteinander bringen, die frustrierende Realität wegdrücken und ohne an morgen zu denken den Moment feiern.

Marie, Buri und Norbert zu Besuch

Die Kleidung von Marie und Buri ist eine echte Katastrophe, viel zu klein, keine Unterwäsche, obwohl die den ganzen Tag auf dem Boden spielen, wo die Tiere hinmachen und sie selbst auch. Es gehört hier dazu, dass die Kinder geschlagen werden, und das nicht nur von ihren Eltern. Die Großen müssen sich um die Kleinen kümmern, viel im Haushalt helfen und teilweise schwer arbeiten. Dann haben wir Jugendliche hier sitzen, die keine Ahnung haben was sie wirklich wollen, was sie können, welche eigenen Visionen und Ziele sie im leben haben. Die Eltern können es sich nicht leisten ihre Kinder studieren zu schicken - und das nicht nur finanziell sondern auch weil sie dann zu Hause als Arbeitskraft ausfallen. Und wenn sie doch studiert haben, dann finden sie keine Arbeit hier. Eli erzählt, dass viele Bikefahrer studiert haben. Obwohl es an allen enden fehlt ist es nach meinen Nachfragen fast unmöglich ein eigenes Business zu gründen. Denn die Mikrokredite werden von den Steuern aufgefressen und auch die Kunden haben kein Geld um eine Rechnung zu bezahlen.

Was ist hier ein Kinderleben wert? Die Mädels erzählen, dass die ärztliche Versorgung für Kinder unter 20 kostenfrei ist. Aber viele Leute wissen oder glauben das hier nicht. Und wenn doch dann haben sie kein Geld und keine Zeit den Weg zum nächsten Krankenhaus zu bewältigen. Vor Weihnachten gehen hier deutlich weniger Menschen zum Arzt, weil sie das Geld für ein paar kleine Geschenke und die Gäste brauchen. Deswegen hat Christina wir Weihnachten ihre Zeit im Krankenhaus von Shisong vorzeitig beendet, weil einfach überhaupt nicht für sie dort zu tun war. Eine Krankenversicherung gibt es hier nicht.

Es ist wirklich tragisch für eine Familie wenn hier ein Kind stirbt. Aber es passiert wohl relativ häufig und das oft nicht aufgrund tragischer Erkrankungen. Was ist bei uns ein Kinderleben wert? Ich denke wieder an die Film „Verborgene Schönheit“, wo in Mensch völlig daran zerbricht sein Kind verloren zu haben. Daran, dass ich gerade meine Tochter hier besuche, dass wir unseren Kindern Musikunterricht ermöglichen können und sie im Urlaub Snowboard fahren können.

Wir brechen gegen halb zwei auf nach Squares um die Familie von Therese frohe Weihnachten zu wünschen. Da die beiden nicht wissen wo genau das Haus ist fragen wir in der Straße ein paar Leute, wo das Haus von Elisabeth und Thomas - den Eltern von Therese - ist. Das wissen sie nicht. Die Mädels waren schon mal zur Erstkommunion von Percy dort, also fragen wir nach ihm. „Ah ja, ich bringe euch gerade dort hin“.

In Sichtweite des Hauses kommt uns Percy entgegen gelaufen und umarmt auch mich ganz herzlich. Ich stelle mich als Eric vor und wir gehen zusammen zum Haus. Er zeigt mit sein aus Müll selbstgebasteltes Auto. Wow. Die Räder sind aus alten Flipflops geschnitten und haben ein krasses Profil. Die Karosserie ist eine Fischdose und es hat eine echt geniale Lenkvorrichtung, die er von oben bedienen kann. Er saust damit im Laufschritt über die Lehmwege. Ich bin total begeistert von seinem Talent.

Lenkbares Auto von Percy aus Müll

Therese empfängt uns und wir gehen ins Haus. Sie hatte gerade Wäsche gewaschen. Wir sitzen zusammen und essen ein paar von ihren selbst gemachten Chinchin-Plätzchen - die mit dem richtigen Geräusch beim Essen ;)

Thereses Chinchin

Als ihre Mutter Elisabeth kommt holt sie uns drei Teller und wir sitzen in der guten Stube. Vor dem Essen stehen wir auf und stellen uns in einen Kreis. Mama Elisabeth spricht ein Tischgebet auf Englisch und dankt für ihre Familie und die Mahlgemeinschaft die uns mit Jesus verbindet. Dann kommt Therese mit einer Schüsse und einer Kanne Wasser und wäscht uns die Hände, denn wir essen wie sich das hier gehört mit den Fingern. Es gibt natürlich das Standardgericht: gelbes Fufu (aus Mais hergestellte Knödel) mit pumkin leaves (ähnlich wie Spinat zubereitete Kürbisblätter). Das schmeckt wirklich sehr gut! Und nach einer Portion bin ich total satt - im Gegensatz zu Mama Elisabeth, die gleich noch eine gegessen hat. Beeindruckend wie sehr Glaube im Leben in dieser Familie Gestalt annimmt. Mama Elisabeth ist eine charismatische Frau, die sich auch für andere und in der Gemeinde engagiert.

In der Sonne trocknendes Rindfleisch

Therese hat noch vier Geschwister, ihr Mann ist ja Lehrer in Vollzeitanstellung in der katholischen Schule einen Steinwurf entfernt von der Hütte der Mädels - dem SAC. Er verdient 56000 Franc im Monat - ihr könnt euch gerne mal ausrechnen wieviel das in Euro ist - aber es ist auch in Kamerun viel zu wenig um auch nur das nötigste zu bezahlen. Eli und Christina bekommen jeweils mit ihrem Taschengeld hier ein Vielfaches davon. Also verdient sich auch diese Familie was dazu wo immer es geht. Mama Elisabeth taucht irgendwann mit einem großen Sack voller Schuhe auf, die sie anderen Gästen zum Kauf anbietet. Vielleicht passt ja was. Gemeinsam mit Therese schauen wir uns noch einen Stapel alter und neuer Fotos an und erzählen über Hochzeiten und die Womensgroup ihrer Mutter, bevor wir uns um viertel vor Sonnenuntergang wieder zu Fuß auf den Heimweg machen.

Staubroter Sonnenuntergang über Kumbo

Wir sind hier in dieser Familie als Freunde empfangen worden, nicht als Weiße, und haben wie Freunde miteinander erzählt. Eli erzählt mir dass Therese eine wirkliche Freundin geworden ist. Und ich finde sie ist sehr intelligent und wissbegierig, authentisch (auch uns gegenüber). Aber was würde sie erwarten, erleben, wenn sie für eine Zeit nach Deutschland käme? Wie schwer muss es für kamerunische Freiwillige sein, ihre Familie zu vermissen, in einer Welt ohne ihre Sozialkontakte mit Waschmaschine, U-Bahn und Rolltreppen anzukommen? Vor allem bei der Vorbereitung, die sie hier bekommen - die Menschen hier haben eigentlich nur eine Betriebserlaubnis für Kumbo mitbekommen und keine Ahnung wie es in Deutschland ist. Filme transportieren eine Weltsicht, die sie nicht glauben können. Ähnlich wie ich das damals mit unseren Freunden aus dem Osten Deutschlands erlebt habe: Obwohl sie es im Fernsehen gesehen haben, war es ein riesiger Schock es wirklich zu erleben. Und wie schwer muss es erst sein, nach einem Jahr Deutschland wieder hierher zurück zu kehren in diese trostlosen Umstände ohne Perspektive.

Mit Christina und Eli haben wir uns schon unterwegs und dann noch den ganzen Abend die Köpfe heiß diskutiert über die Art ihres Dienstes, über die Verhältnisse in Deutschland, über die Möglichkeiten und den Auftrag, hier etwas zu lernen, erfahren, zu bewirken. Die beiden sind sehr tief eingedrungen in das System, weil sie viele wirklich intensive persönliche Beziehungen zu Familien und Menschen haben, deren Möglichkeiten und Nöte hautnah erleben. Und den krassen Kontrast zu ihren eigenen Möglichkeiten als Deutsche. Wir sind hier deutlich herausgehoben, wir fallen auf, die Leute hören genau zu was wir sagen, messen dem Bedeutung zu. Das ist eine Realität, es hat keinen Sinn das abzutun als postkoloniale Verwirrung. Was machen wir konkret aus dieser Position? Und das meine ich überhaupt nicht finanziell. Wenn, wie heute, 10 total glückliche Kinder auf uns zu rennen, „Whiteman“ und „Happy Christmas“ rufen und uns abklatschen, dann möchte ich mich zu ihnen auf den Boden setzen und ihnen erklären, dass ich auch nur ein ganz normaler Typ wie sie bin, dass ich als Kind nur Mist im Kopf hatte, dass ich schlechte Noten geschrieben habe und dass sie sich ihre Träume bewahren sollen. Aber darf ich das? Was bringe ich da bei ihnen durcheinander, in Bewegung? Ist das hilfreich?

Es ist so schwer aus diesen so wunderbaren Erlebnissen und den so schwierigen, fast dramatischen Verhältnissen eine Vision für dieses Land zu entwickeln. Wir sind voller guter Wünsche für diese lieben Menschen. Dieser Tag hat mich wieder ein bisschen zu einem anderen Mensch gemacht. Ich hoffe dass ich das so schnell nicht vergesse, was ich heute geschenkt bekommen habe.